Wer hätte ein Motiv gehabt, die Jahreszählung zu manipulieren?
Bei der Suche nach dem 'Schuldigen' stößt man
schnell auf Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennitos in Byzanz
[vgl. H. Illig: Wer hat an der Uhr gedreht?, München 1999]. Von diesem
ist bekannt, dass er die alten Schriften 'erneuern' und auch mehrere
Schriften zur Geschichte seines Reiches niederschreiben ließ, diese
teilweise sogar selbst verfasste. Er war nach Jahrzehnten im Wartestand
im Jahre 945 u.Z. auf den Thron gekommen, nachdem sich sein Vorgänger Romanos
I.
als gebrochener Mann in ein Kloster zurückgezogen hatte.
Was war geschehen? Münzen mit Abbildern (wie sie im Islam undenkbar
waren) wurden noch im 10. Jh. u.Z. in Persien geprägt. Auch die
Geschichte Persiens des Firdausi weiß nichts von islamischer
Herrschaft. Nimmt man die gleichartigen Überlieferungen zu den späten
Regierungsjahren des Kaisers Herakleios I. hinzu, so liegt die
Vermutung nahe, dass nicht jenem, sondern dem Romanos ein
Großteil der Provinzen des Römischen Reiches verloren gingen, dazu die
heiligen Stätten sowie die unersetzliche Reliquie vom Heiligen Kreuz.
Dies war der Supergau. Die Existenz des Kaiserreiches war
bedroht.
Welche Optionen hatte der neue Kaiser Konstantin VII.? Es galt
zum einen, den Vormarsch des Islam zu stoppen, für dessen Lehre neue
Anhänger weit leichter zu gewinnen waren als für die Staatskirche mit
ihrer der Logik nicht zugänglichen Himmlischen Dreifaltigkeit.
Der Kirchenvater Tertullian
hatte einst gelehrt, dass im Zweifel die ältere Lehre die wahre
sei. Erschiene die Staatskirche weit älter als der Islam, so könnte sie
Letzteren als ketzerische Abweichung brandmarken. Gleichzeitig wäre das
Versagen des Kaiserhauses als Schutzherr des Reiches und der Kirche
mitsamt der heiligen Reliquien in die Vergangenheit gerückt und
würde so bald in Vergessenheit geraten. Aber das Beste daran war, dass
auf diese Weise zugleich die Lücke in der Chronologie geschlossen
würde, die durch den Jahrhunderte währenden Schlaf der sieben Jünglinge
von Ephesos entstanden war.
Eine Intrige des Herrschers,
der hierzu
niemanden in seine Motive einzuweihen brauchte und deren Kosten im
Vergleich zu anderen machterhaltenden Aufwendungen lächerlich gering
waren,
reichte aus: Es genügte, die Jahreszahlen der Antike um dreihundert zu
verringern. Am einfachsten gelang dies dadurch, dass die gebräuchliche
Jahreszählung der Griechen (Seleukidenära) in Jahreszählung nach Christi Fleischwerdung umbenannt wurde.
Nach der gebräuchliche amtlichen Jahreszählung, der Byzantinischen Weltära
verschob sich Christi Geburt dadurch auf das Jahr 5509 BWÄ, während die
Römischen Märtyrerlisten und Beda Venerabilis hierfür das Jahr 5199 der
Christlichen Weltära
ansetzten. Jene Überlieferungen der Byzantinischen Chroniken der
letztvergangenen drei Jahrhunderte, welche sowohl nach der einen wie
der anderen Zählweise überliefert waren, erschienen allein hierdurch
für den oberflächlichen Leser doppelt und zu verschiedenen Zeiten.
Eine geringfügige 'Anpassung' half, allzu auffällige Duplizitäten zu
vermeiden. Einige 'harte Fakten' in Form von Sarkophagen und Gebeinen
zu schaffen, war ebenfalls kein Problem.
Schließlich galt es die neue Sicht auf die Historie so zu
kommunizieren, dass der Gedanke an Manipulation gar nicht erst
aufkommen konnte. Tatsächlich wurde die Urkunde einer angeblichen Konstantinischen
Schenkung
verbreitet (in hunderten von Abschriften in vielen
Sprachen - der
älteste erhaltene Hinweis
stammt von 979 u.Z.): Kaiser Konstantin habe einst aus Dankbarkeit
Papst Silvester den Kirchenstaat übereignet. Das klang unglaublich –
und eben deshalb wurde es weiter gegeben. Aber zugleich entstand in den
Köpfen der Leser die Vorstellung von einem römischen Kaiser Konstantin
und seinem Papst, die jede Verwechslung mit einem Herrscher Herakleios
in Byzanz ausschloss...
HEK 06/2009